Kultur
Wenn der Zivilisation der Stecker gezogen wird…
Der in der New Yorker Bronx geborene US-Romancier Don DeLillo hat viele Auszeichnungen wie den National Book Award für sein Lebenswerk gewonnen. Der heute 85-Jährige schreibt zwar keine Großprosa mehr, aber sein jüngster und 106-seitiger Roman „Die Stille“ ist eine zeitlose Dystopie, die – obwohl vor Corona zu Papier gebracht – wie ein Kommentar zur aktuellen Pandemie erscheint.
Veröffentlicht von Heinz-Gerhard Wilkens am 30. Juli 2021
Das Szenario, das DeLillo entwickelt, ist schnell erzählt. Im Jahre 2020 warten zwei Männer und eine Frau in einem Apartment der New Yorker Upper Westside auf den Anpfiff des American Football Finales. Ein befreundetes Ehepaar stößt später nach einem Flug von Paris nach Big Apple dazu. Doch alle eint die Sprachlosigkeit angesichts eines weltumspannenden Stromausfalls und einer damit einsetzenden „globalen Stille“. Plötzlich wackeln die Fernsehbilder, der Bildschirm wird schwarz und im Flugzeug leuchten die Anschnallzeichen rot auf. Während der Dichterin Tessa Berens und Schadenregulierer Jim Kripps noch eine Bruchlandung mit leichten körperlichen Blessuren bevorsteht, deklinieren die drei Superball-Interessierten vor dem TV-Gerät bereits hilflos mögliche Erklärungsmuster für den Zusammenbruch aller digitaler Netze durch. Es sind Diane Lucas, eine emeritierte Physikprofessorin, ihr Partner Max Stemmer und der monologisierende High School Student und Einstein-Fan Martin Dekker. Und so sprudelt es aus ihnen heraus: Internet-Apokalypse, Sonnenflecken, Systemversagen, Zusammenbruch der Weltzivilisation, Shutdown, Massenüberwachungs-Software und Asteroidenschauer. „Wir werden zombifiziert. Wir werden verspatzenhirnt“, klagt Max Stemmer.
Don DeLillo entwirft das Schreckensszenario einer Hightech-Gesellschaft, die innerhalb von Sekunden ins Mittelalter zurückkatapultiert wird, in „eine taumelnde Leere“. Und dann kommt auf Seite 84 der vom Autor nachträglich eingefügte Corona-Verweis: „Aber dazu kommt, was wir alle noch frisch in Erinnerung haben, das Virus, die Seuche, die Märsche durch die Flughäfen, die Masken, die entleerten Straßen der Städte.“
DeLillo, der weder ein iPhone besitzt noch einen E-Mail-Account, kennt natürlich lähmende Stromausfälle wie jenen des Jahres 2003, der Manhattan einen ganzen Tag lahmlegte. Aber sein Skeptizismus denkt auch immer mit, dass die Postmoderne in gespenstischen Szenarien untergehen könnte. Die Einschläge kommen mit Covid 19, Umweltkatastrophen und Cyber Wars ja auch näher. Und so nimmt der Autor seine Leser mit auf dem schmerzhaften Weg von der virtuellen in die eigene, existenzielle Realität. Daher wird das Weltuntergangsszenario am Ende seines Romans auch nicht aufgelöst. Vielmehr lässt er einen seiner Protagonisten subsumieren: „Zeit zum Dasitzen und Stillsein.“ Und so thematisiert DeLillo einen Kippmoment der Menschheitsgeschichte, wo sich die Stille schnell mit Entsetzen füllt. Nicht umsonst stellt er seinem Roman ein Zitat von Albert Einstein voran: „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“
Don DeLillo, Die Stille. Kiepenheuer & Witsch, 106 Seiten, ISBN 978-3-462-00128-0, 20,00 Euro
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