Beruf & Familie

Vom Rotzlöffel sein und Erwachsenwerden

Wenn man bedenkt, dass die Lehrer, die Kinder und Jugendlichen in den wichtigsten Phasen ihrer Entwicklung begleiten und zeitlich teilweise mehr Zeit mit Ihnen verbringen als ihre Eltern, dann ist es offensichtlich, dass es neben dem Vater- und Muttertag auch einen Weltlehrertag geben muss.

Veröffentlicht von Marie Mävers am 6. Oktober 2020

Der Weltlehrertag wird rund um den Globus seit 1994 immer am 5. Oktober begangen. Die Initiative zur weltweiten Würdigung des Lehrerberufes ging auf einen Beschluss von UNESCO, Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) und Bildungsinternationale (EI) zurück – im Gedenken an die „Charta zum Status der Lehrerinnen und Lehrer“, die 1964 von der UNESCO und der ILO angenommen wurde. Seit damals heißt das Ziel: qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer für eine qualifizierte Bildung. Die Bildungsinternationale, die weltweit mehr als dreißig Millionen Lehrkräfte vertritt, setzt sich für die weltweite Durchsetzung der „Charta zum Status der Lehrerinnen und Lehrer“ ein und fordert eine internationale Anerkennung des Weltlehrertags.

Neben dem Bildungsauftrag der Lehrer, der durch jährliche PISA-Studien und weitere Analysen stetig wächst, beobachtet Susanne Schneider, Erzieherin und Buchautorin, dass insbesondere die Erziehung immer mehr in der Kita und in der Schule abgestellt wird. Ihr Buch mit dem provokanten Titel: „Die Rotzlöffel-Republik“, dass sie 2017 zusammen mit Tanja Lietsch geschrieben hat, stieß auf große Resonanz – Zustimmung und Empörung. Denn das Wort Rotzlöffel wird in unserer heutigen Gesellschaft lieber durch die Bezeichnung „verhaltensoriginelle Kinder“ ersetzt.

Seit Tausenden von Jahren sind Kinder einfach Kinder und das einzige was sich verändert hat, ist laut Schneider, das Verhältnis zwischen ihnen und den Erwachsenen. Das erklärt auch den Weg vom Rotzlöffel zum verhaltensoriginellen Kind. Schneider sowie viele weitere Erzieher und Lehrer beobachten die stetig wachsende Bevorzugung und Empfindlichkeit der Eltern mit ihren Kindern. Eltern heben ihre Kinder auf ein Podest und schaffen es immer seltener „Nein“ zu sagen. Das hat große Folgen auf deren Entwicklung und Verhalten, denn die Kinder versuchen sich zu orientieren, an Vorbildern und an Regeln. Gibt es diese nicht, werden sie zu „Rotzlöffeln“. Gefühlt werden es laut Schneider immer mehr Eltern und somit auch immer mehr Kinder. Inzwischen gibt es sogar Kurse, in denen Eltern lernen, wie sie Nein zu ihren Kindern sagen. Und diese sind überbucht.

Schneider und Lietsch wollen keine Schuld zuweisen, aber Verantwortung benennen, Kinder nicht als Tyrannen beschreiben, aber zeigen, welche Einflüsse sie als solche wirken lassen. Eine Mutter sagt in ihrem Buch zum Beispiel zur Erzieherin: „Ich möchte, dass Sie sich jeden Morgen vor meinem Sohn hinknien, wenn Sie ihn begrüßen.“ Sie habe ihrem Kind nämlich auf Augenhöhe zu begegnen. Im ersten Moment klingt das amüsant und erzeugt ein Kopfschütteln. Allerdings ist ein solches Verhalten von Eltern längst die Regel in deutschen Kindertagesstätten.

Die Folgen dieser ersten Erziehungsphase im Kleinkindalter transportiert sich dann weiter in die Schulen und potenziert sich. Denn auf dem Weg zu jungen Erwachsenen entwicklen die Kinder zusätzlich eine verbale und physische Verhaltenskraft, die sich nicht mehr mit der Bezeichnung „verhaltensoriginell“ runterspielen lässt. Einer Umfrage zufolge hat die Gewalt gegen Lehrer deutlich zugenommen. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) kommt zu den Ergebnissen, dass 61 Prozent der Schulleiter von Vorfällen psychischer und physischer Gewalt in den letzten fünf Jahren berichten. Im Vorjahr waren es noch 48 Prozent. Laut der Umfrage sind 73 Prozent der Lehrer an weiterführenden Schulen von direkter psychischer Gewalt betroffen, nur an Gymnasien sind es etwas weniger. Körperliche Gewalt richtet sich dagegen häufiger gegen Grundschullehrer. Es ist Zeit – „wieder mehr davon für unsere Kinder zu haben“, erklärt Susanne Schneider.

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