Es sind verstörende und irritierende Bilder aus 26 Jahren, die der Fotograf aus dem Tiroler Alpbachtal für seinen Bildband aus 9.000 Aufnahmen ausgewählt hat. Fotos, die Hemmungs-, Geschmack- und Maßlosigkeit dokumentieren und darüber ihre visuelle Sprengkraft entfalten. Dokumente sexualisierter Menschen im Vollrausch, die öffentlich für ihre niedrigsten Triebe eine Bühne kreieren. Alkohol, mit dem eine einzige Hütte in Ischgl bis zu 120.000 Euro am Tag verdient, dient in allen Fällen als Brandbeschleuniger für die Schneehöllenexzesse. Ischgl gilt als „Tourismus-Ungeheuer“, das pro Saison bei 1,4 Millionen Übernachtungen rund 250 Mio. Euro Umsatz macht. Lois Hechenblaikner beschreibt den Treibstoff dieser Industrie, die er „Gastro-Wegelagerei“ nennt, so: „Ein Mensch, der bei sich ist, den kann ich ja gar nicht zweckrational bewirtschaften. Ich muss ihn zuerst in den Zustand des ‚außer sich‘ bringen. Und das ist eben dieses ganz spezielle Einstellen zwischen 0,5 und einem Promille, wo die Wurschtigkeit beginnt.“
Und so erhalten wir Einblicke in eine Form des Après-Ski-Gelages, wo alle Hemmungen längst gefallen sind. Sie dürften sich tatsächlich nur im Vollrausch erschließen, getreu dem Ischgl-Slogan „Relax if you can“. Wir sehen unappetitliche Fetisch-Spiele mit Sexpuppen, Männer mit Gummi-Penissen auf dem Skihelm, Promilleopfer als Fotomotiv für Danebenstehende, hingestreckt in einem Meer aus Bierflaschen. Wir treffen auf die „Muschifreunde Karlsruhe“ und T-Shirt-Träger mit der Aufschrift „Kuhstall. Home of Wahnsinn“. Und überall Berge von Müll, Erbrochenem, Bier- und Champagnerflaschen. Da wirkt ein Abrechnungsbeleg aus der „Champagnerhütte“ über drei Flaschen Montrachet über 8.770,00 Euro plötzlich gar nicht mehr obszön. Hechenblaikner macht die Gruppendynamik für diesen alpenländischen Tanz auf dem Vulkan verantwortlich. „Es sind hormonell unterzuckerte Frauen und Männer auf Extremurlaub. Und alle wollen die Sau rauslassen. Das ist reiner Hedonismus. Da sind viele Geschiedene dabei – für die ist das ein hormoneller Secondhandmarkt.“
Wenn man bedenkt, dass die isländischen Behörden schon am 29. Februar 15 Covid-19 Fälle in einer Ski-Reisegruppe, die aus Ischgl zurückkehrte, meldeten und den Tiroler Ort am 5. März als Risikogebiet erklärten, dann muss man sich schon wundern, dass erst am 12. März in Tirol ein vorzeitiges Saisonende verkündet wurde und es noch drei weitere Tage dauerte, bis die Skilifte zum Stillstand kamen. Ende September 2020 wird der österreichische Verbraucherschützer Peter Kolba erste Klagen jener 6.000 Tirol-Urlauber, darunter viele Deutsche, in einem Muster-Prozess gegen den Touristenort Ischgl beim Landgericht Wien einbringen. Der Vorwurf: die Behörden vor Ort hätten Informationen über Infektionen in Ischgl zurückgehalten, die Gefahr konstant heruntergespielt und damit dazu beigetragen, dass sich das Coronavirus ungehindert verbreiten konnte. Es geht um Entschädigungssummen von bis zu 100.000 Euro. Es geht um Fälle, wo Menschen bereits gestorben sind oder nach schweren Verläufen der Infektion mit Folgeschäden zu kämpfen haben.
Dass das Geschehen aus dem Winter in Ischgl zu einem Läuterungsprozess führen könnte, daran glaubt Lois Hechenblaikner übrigens nicht: „Der Älpler ist ein globalisierter Schwächling, der sich nie gegen finanzielle Versuchung wehren konnte. Erst hat er seine Heimat verkauft, dann seine Seele. Das ist Prostitution. Nein, sogar Hochverrat am Selbst!“
Die Fotos zum alpinen Massentourismus aus dem Buch hat uns freundlicher-weise der Steidl-Verlag zur Verfügung gestellt.
Lois Hechenblaikner, ISCHGL. Mit einem Text von Stefan Gmünder. Juni 2020. Steidl, 240 Seiten, 205 Abbildungen, 34,00 Euro. ISBN 978-3-95829-790-6
