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Ethik & Gesellschaft

Wie wollen wir sein?

„Grundlegende Veränderungen einer Gesellschaft entstehen immer durch Ausnahmesituationen“, sagte uns Matthias Kopp, Chief Sustainable Officer des WWF Deutschland, in einem Interview im vergangenen Jahr. Eine solche Situation haben wir nun. Doch was macht sie mit unserer Gesellschaft? Treibt sie die Schere noch weiter auseinander oder lässt sie uns erkennen, was wirklich wichtig ist?

Veröffentlicht von Silke Hirschfeld am 29. Mai 2020

Es ist gar nicht lange her, da habe ich an dieser Stelle einen Beitrag über den Zukunftsforscher Matthias Horx und seine Sicht auf die Auswirkungen der Pandemie in Form einer Re-Gnose veröffentlicht. Horx zeichnet damit ein schönes Bild, in dem sich trotz – oder gerade wegen – des Leids, das das Virus und die Maßnahmen mit sich bringen, unser Wertesystem verschiebt und wir unser Bewusstsein neu fokussieren. Ich wurde daraufhin von jemandem gefragt, ob ich wirklich daran glaube, dass das so geschehen wird. Eine interessante Frage, bei der ich natürlich nicht umhin komme, den Blick von meinem nahen Umfeld – bei dem ich tatsächlich diese Veränderung wahrnehme – zu lösen und mich der gesamten Realität zu stellen.

Seitdem beschäftige ich mich vorrangig mit aktuellen Verschwörungstheorien jeglicher Couleur – in die Welt gesetzt von vermeintlichen Experten sowie Regisseuren, Journalisten, Köchen, Sängern, Richtern, Anwälten und vielen anderen, deren Kernkompetenz außerhalb des medizinischen Bereiches liegt.

Fangen wir bei den Wissenschaftlern an. Die Spannbreite reicht von echten Experten bis zum Schaulaufen der Eitelkeiten derer, die gerne welche wären. Da kann man schonmal den Überblick verlieren. Tatsächlich ist es aber doch so: Wenn ich zehn Wissenschaftler frage, bekomme ich aktuell ca. zehn Meinungen. Interessanterweise kann jede einzelne Meinung durch eine fundierte Studie belegt werden. Wenn ich die gleichen Wissenschaftler vier Wochen später noch einmal frage, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass mehrere der Befragten ihre Meinung inzwischen grundlegend geändert haben. Nun können Sie denken, dass die alle keine Ahnung haben. Es liegt zum Teil aber auch einfach daran, dass es sich bei COVID-19 eben um ein neuartiges Virus handelt, das bislang nur unzureichend erforscht ist. Da der „Faktor Zeit“ hierbei entscheidend ist, forschen die Wissenschaftler aktuell weltweit mit einer ungewöhnlichen Transparenz, indem sie ihre Studien in Vorabversionen online zur Diskussion stellen und andere Wissenschaftler diese mit ihren eigenen Erkenntnissen ergänzen oder aber auch widerlegen. Das alles geschieht in einem fortlaufenden Prozess, der an sich nicht ungewöhnlich ist. Lediglich die öffentliche Transparenz mit der das alles gerade geschieht, die ist neu. So neu, dass sie selbst der Chefredakteur der BILD Zeitung, Julian Reichelt, nicht kannte und deshalb in dieser Woche ein beispielloses Drosten-Bashing vom Zaun brach. Prof. Dr. Christian Drosten, Chef-Virologe der Berliner Charité, veröffentlichte eine Studie in erster Version, in der es hinsichtlich COVID-19 um die Ansteckungsgefahr durch Kinder geht. In dem bereits beschriebenen Prozess wurde die Studie durch andere Wissenschaftler teils stark kritisiert. Das Boulevard-Blatt nahm dies zum Anlass die gesamte Kompetenz Drostens derart zu diffamieren, dass andere Wissenschaftler und seriöse Medien sich von dieser Schmutzkampagne rigoros distanzierten. Sogar die AOK stellte klar, dass die Berichterstattung nichts mit Journalismus zu tun hat und zog sämtliche Anzeigenaufträge zurück.

Nichtsdestotrotz ist diese desaströse Berichterstattung natürlich ein Trigger für Verschwörungstheoretiker und all jene, die meinen, dass Corona harmlos ist, unsere Regierung uns nur die Grundrechte nehmen will und ansonsten eh alles falsch macht, weil es bei uns ja gar nicht so viel Tote gibt, wie in anderen Ländern, und das deshalb alles nicht nötig gewesen wäre. Sie meinen, jeder andere hätte es besser gekonnt als Merkel & Co. Wir alle kennen dieses Phänomen aus dem Sport, insbesondere aus dem Fußball: Tausende Spitzensportler der 1. Couch-Liga, die vom Sofa oder der Kneipe aus garantiert jeden Elfmeter locker ins Tor bekommen hätten, im Gegensatz zu den hochbezahlten Pfeifen auf dem Platz. Nun ist richtiges Handeln in der Theorie ja auch recht einfach, vor allem ab der zweiten Reihe und erst recht im Nachhinein.

„Ein Irrsinn: Würden wir die Feuerwehr abschaffen, nur weil es im vergangenen Jahr nicht gebrannt hat?“ fragt der Journalist und Physiker Ranga Yogeshwar und wundert sich darüber, dass die Kritik an den Experten wächst, anstatt den Erfolg unserer Maßnahmen zu feiern. Doch der Unmut über Verbote und Einschränkungen ist zu groß – und das nicht nur bei den Linken, Rechten, Impfgegnern, Esoterikern, Widerständlern und Aluhutträgern auf der Straße. Für Schriftstellerin und Richterin Juli Zeh ist das derzeitige Handeln der Regierung absolut verfassungswidrig. Im Vergleich zu vielen anderen räumt sie immerhin in den meisten ihrer Statements ein, dass sie keine medizinische Expertin ist und daher vieles nicht beurteilen kann. Es widerspricht jedoch ihrem demokratischen Verständnis, dass Handlungsalternativen nicht – für den Bürger verständlich – diskutiert werden. Dass diese Diskussion Zeit kostet, die aufgrund der Ausbreitungsgeschwindigkeit vielleicht einfach nicht vorhanden war, lässt sie dabei unerwähnt.

Der Groll von Regisseur Frank Castorf ist da wesentlich pragmatischer: „Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung“, sagte er der FAZ. Ich kann das gut verstehen und denke, Frau Merkel möchte das auch nicht immer sagen müssen. Stattdessen verzweifelt die Physikerin vermutlich regelmäßig daran, dass so viele die Komplexität der Pandemie noch nicht begriffen haben und die gut-bürgerliche Hygiene-Erziehung des Herrn Castorf wohl nicht selbstverständlich für alle Bürger ist.

Wahrhaft erschrocken bin ich derzeit von Attila Hildmann. Der einst so sympathische Koch, der vor vielen Jahren die vegane Ernährung aus der muffigen Öko-Ecke holte und ihr ein hippes Ansehen verlieh, zeigt seit Wochen ein Antlitz, das von Zorn, Aggression und Wut geprägt ist. Bei öffentlichen Kundgebungen protestiert er laut dagegen, dass der Staat ihm seine Demonstrations- und Meinungsfreiheit genommen hat. Dem aufmerksamen Leser wird an dieser Stelle der Widerspruch nicht entgangen sein. Den Verlust der Meinungsfreiheit bekommt derzeit vor allem Reformhaus-Chefin Cathrin Engelhardt zu spüren, denn seit sie sich vom politischen Auftreten Hildmanns distanziert, weil sie eben anderer Meinung ist, und seine Produkte daher aus ihrem Sortiment genommen hat, wird sie ausgerechnet von ihm und seinen Anhängern nicht nur mit einem E-Mail Shitstorm überschwemmt, sondern sogar bedroht. Den wahren Antrieb seiner politischen Mission formulierte der fleischfreie Kampf-Koch in den sozialen Medien so: „Ich sollte als nächsten Schritt die ALUHUT-Partei gründen und mich zum King of Aluhuts oder einfach ‚König Xavier der Zweite‘ wählen lassen.“ Na dann mal zu!

Die Liste der Kuriositäten lässt sich derzeit endlos fortsetzen. Tatsächlich aber frage ich mich, was die Menschen anderer Nationen, wie beispielsweise die Bewohner der USA, Brasiliens, Spaniens oder Italiens denken, wenn sie solche Äußerungen hören. Halten sie uns für Jammerlappen, für arrogant oder gar für dumm? Fragen sie sich, warum wir nicht feiern, dass die Zahl unserer Corona-Toten im Vergleich zu ihren so gering ist? Lachen sie uns aus, weil wir den Verlust unserer Grundrechte beklagen, obwohl in Deutschland nicht einmal eine Ausgangssperre verhängt wurde? Wenn es ein Grundrecht gibt, das ich derzeit gefährdet sehe, dann ist es das auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Doch dieses Recht wird uns nicht vom Staat genommen, sondern von denen, die sich in ihrer Freiheit so eingeschränkt fühlen, dass sie das Tragen von Schutzmasken und Abstandsregeln ohne Rücksicht auf andere ignorieren.

Auf die ursprüngliche Frage zurückkommend, ob ich an eine nachhaltige positive Veränderung unserer Gesellschaft glaube, möchte ich die Gegenfrage stellen: „Wie wollen wir in Zukunft sein?“ Wollen wir vorübergehenden staatlichen Maßnahmen mit Widerstand und Zorn begegnen oder erst einmal schauen, ob sie Sinn machen und etwas Gutes dabei herauskommt? Wollen wir die wahren Missstände, die mit der Pandemie einhergehen, wie beispielsweise soziale Armut und mangelnde Chancengleichheit im Bildungssystem aufdecken, darauf aufmerksam machen und unterstützen bis der Staat an dieser Stelle seine Pflicht erfüllt?

Wenn ich den Blick auf mein direktes Umfeld richte, dann sehe ich Menschen, die noch engagierter sind, als sie es eh schon waren. Sie beklagen nicht die Einschränkungen ihrer Rechte, sondern erkennen – vorübergehend – die Notwendigkeit der Maßnahmen und helfen denen, die es gerade wirklich schwer haben. Sie erkennen die kleinen feinen Veränderungen um uns herum: von der positiven Entwicklung des Klimas bis hin zu einem oft freundlicheren Miteinander.

Wenn ich meinen Blick allerdings auf die (sozialen) Medien richte, dann denke ich täglich an eine Liedzeile der wunderbaren Sarah Lesch, die da lautet:

„Wenn Ihr das Welt nennt, bin ich gern weltfremd“

Also, es liegt an jedem einzelnen von uns: Wie wollen wir in Zukunft sein?

 

 

 

 

2 thoughts on “Wie wollen wir sein?”

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