„Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben. […]
Die Intelligenz, die Gaben des Verstandes, mögen zum größten Teil angeboren sein, aber in keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.“
Dieses Zitat stammt aus der Rede, die die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren 1978 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gehalten hat. Lindgren war die erste Kinderbuchautorin, der diese Ehre zuteil wurde. Sie stellte ihre Rede unter das Motto „Niemals Gewalt!“ und forderte mit ihren Worten eindringlich zur gewaltfreien Erziehung von Kindern auf.
Ein passenderes Motto hätte UNICEF also nicht wählen können – weder für die neue Anti-Gewalt-Kampagne, noch für das Jahresauftaktgespräch, das am 15. Januar erstmals virtuell stattfand. Rund 90 Experten, Förderer, Partner und prominente Botschafter nahmen an der Videokonferenz teil, die der Vorsitzende Georg Graf Waldersee, der auch Mitglied in der Jury des HanseMerkur Preises für Kinderschutz ist, eröffnete.
Auch wenn der Verein während seines 75-jährigen Bestehens vieles mitgemacht hat, gehört diese Zeit, die weltweit von den Auswirkungen der Pandemie dominiert wird, zu den besonders herausfordernden. „Die Corona-Pandemie und ihre Folgen haben den Stress in vielen Familien erhöht und das Risiko Gewalt zu erfahren für Kinder weiter verschärft. Überall sind gefährdete Kinder aus dem Blick geraten, ihr Zugang zu Hilfsangeboten wurde erschwert. UNICEF schätzt, dass 1,8 Milliarden Kinder in den 104 Ländern weltweit leben, in denen zwischenzeitlich Präventions- und Hilfsprogramme unterbrochen wurden. Umso wichtiger ist es, dass Kinder überall und immer Schutz erfahren und wir Unterstützungsangebote nicht nur aufrechterhalten, sondern auch ausweiten – in Krisenzeiten und darüber hinaus“, so Graf Waldersee.
Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm, erklärte, welch tiefe und dauerhafte Spuren emotionale Gewalt bei Menschen, insbesondere bei Kindern hinterlassen: „Wenn einem Kind ständig vermittelt wird, dass es ungewollt und wertlos ist, dann ist das emotionale Gewalt. Sie wiegt genauso schwer wie körperliche oder sexualisierte Gewalt.“ Er nannte es beschämend, dass es uns nicht besser gelingt, das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Grundgesetz zu verankern, und spielte damit auf den jüngsten Textvorschlag der Koalition an, der eine „angemessene Berücksichtigung des Kindeswohls“ für eine gute Idee hält.
Schirmherrin Elke Büdenbender veranschaulichte die Auswirkungen der Pandemie an dem nigerianischen Sprichwort: „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Dieses Dorf ist in der Pandemie weggefallen. Gewalt wird nicht mehr gehört. Und der Ort, der der sicherste der Welt sein sollte, ist für viele der schlimmste geworden.“ Ihr sehr eindringlicher und bewegender Appell lautet: „HINSCHAUEN!“
Die neue UNICEF-Kampagne #NiemalsGewalt verfolgt genau dieses Ziel, denn Gewalt ist eben nicht immer sofort sichtbar. Sie ist auch nicht immer körperlich. Das Kind, das von seinen Eltern als Nichtsnutz und Versager beschimpft wird, erleidet genauso schwere Misshandlungen, wie das, das von ihnen geschlagen wird.
In ihrer eingangs erwähnten Rede beschrieb Astrid Lindgren das Erlebnis einer Frau, wie es eindringlicher kaum sein kann: „Sie war eine junge Mutter zu der Zeit, als man noch an diesen Bibelspruch glaubte, dieses ‚Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben‘.
Im Grunde ihres Herzens glaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Tages hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte, die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: ‚Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.‘
Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. Das Kind musste gedacht haben, ‚Meine Mutter will mir wirklich weh tun, und das kann sie ja auch mit einem Stein.‘
Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selber gegeben hatte: ‚NIEMALS GEWALT!‘