Kinderschutz

„Heimat kann schön und auch grauenvoll sein“

Ein Sommerferienprogramm in Billbrook? Hier, in Hamburgs zweitgrößtem Industriestandort, dem Zentrum großer Entsorgungs- und Recyclingbetriebe, von Speditionen und dem Kraftwerk Tiefstack? Als mich die Anfrage erreichte, hier im Schulkinderclub vom 26. – 29. Juli 2021 eine Projektwoche zum Thema „Heimat“ mit einem Reporterteam zu dokumentieren, sagte ich schon aus Neugierde zu. Es war, um es vorwegzuschicken, eine Erfahrung, welche mir die Augen für das Leben und die Nöte junger Geflüchteter öffnete.

Veröffentlicht von Heinz-Gerhard Wilkens am 9. August 2021

Billbrook ist Hamburgs Stadtteil mit dem größten Anteil (84,6 Prozent) von Menschen mit Migrationshintergrund in Hamburg. Im Schulkinderclub neben der Schule am Schleemer Park mitten im Gewerbegebiet werden in offener pädagogischer Arbeit 125 Kinder von fünf bis 17 Jahren betreut, die meist aus den benachbarten Wohnunterkünften am Billstieg oder der Berzeliusstraße kommen. Sie bzw. ihre Eltern haben zu 100 Prozent Fluchtbiografien oder Kriegserfahrungen. Der letzte von ursprünglich sechs Schulkinderclubs des Kitaträgers elbkinder in der Hansestadt hat das Ziel, „zu Jugendlichen aus anderen Kulturen eine freundliche Einstellung zu entwickeln, Gemeinsamkeit und Freude zu erleben.“ Der Schulkinderclub ist eine von vier Stationen des Stadtmusicals PLANET BILLSTEDT, das vom 14.-15. August 2021 das Thema „Wie wollen wir in 50 Jahren leben?“ spielerisch, musikalisch und tänzerisch behandelt und dabei die Themen Klima, Diversität, Mobilität und Bildung aufgreift. Im Fokus „meiner“ Einrichtung am Billbrookdeich 266 stand das Thema „Heimat“. Rund 40 Kinder – zumeist aus der Flüchtlingswelle 2015/2016 fanden sich dazu ein: vor allem Afghanen, Iraner, Iraker und Syrer.

Das Reporterteam bestand aus Tawid (11), der erst 2018 aus Nordafghanistan mit seiner Familie nach Hamburg kam. Sein Freund Daniel (13) flüchtete schon in Alter von einem Jahr mit seinen Eltern aus Kabul auf dem Landweg. Auch Rahmatulla (15) floh vor den Taliban über Griechenland nach Deutschland. Allein Yussuf (16) ist in Deutschland geboren. Seine Eltern machten sich schon während der russischen Besatzung vom Hindukusch auf nach Deutschland. Nur Falzad (17) kommt aus dem Iran und flüchtete 2015 als Elfjähriger (!) allein nach Deutschland. Heute wohnt er bei seiner Tante, die die Betreuung übernommen hat.

Wie sehen diese jungen Menschen Deutschland? Welches Land betrachten Sie als Heimat? Was vermissen, was begrüßen sie? Fazit: Alle wollen unbedingt einen Schulabschluss machen. So möchte Rahmatulla Zahnarzt werden und hat sich schon einen Praktikumsplatz in einer Dentalpraxis ergattert. Tawid und Daniel streben eine Karriere als Wrestler bzw. Profifußballer an und trainieren eifrig im Verein. Yusuf hat das Berufsziel „kritischer Journalist“ und bewundert Jürgen Todenhöfer für seine mutigen Reportagen aus Krisengebieten. Alle vermissen ihre Familie, bestimmte Feiern wie das Zuckerfest, und bedauern, dass die Kommunikation mit den Zurückgebliebenen schwierig sei, da die Taliban gegen das Internet vorgingen. Überhaupt sprudelt es zum Stichwort islamistische Terrorgruppe nur so aus den Jugendlichen heraus. Von den Drangsalen gegen die Zivilbevölkerung sowie gegen Frauen und Mädchen bis zu deren Geldquelle Opiumanbau. Eine doppelt tragische Entwicklung, flüchteten doch immer mehr Afghanen in den Drogenkonsum, um den Terror-Alltag zu vergessen.

Was die Ziele, Wünsche und Hoffnungen dieser jungen Menschen betrifft, so konnte Helga Awad, die Leiterin des Schulkinderclubs, in den 27 Jahren ihrer Tätigkeit schon viele gelungene Integrationsgeschichten verfolgen, wie die des serbischen Rappers Zoran (15), der schon im Alter von sieben in ihre Einrichtung kam und einen Song über Billstedt produziert hat, den er dem Reporterteam und dem Filmemacher Jan Karl Beyer im Verlauf der Projektwoche auch noch vorstellt. Helga, die zum Ausdruck bringt, dass der Schulkinderclub für viele Kinder und Jugendliche eine Heimat stiftet, begrüßt, dass ein Musical wie PLANET BILLSTEDT einen „vergessenen“ Stadtteil wieder in den Fokus rückt und allen Akteuren, die im Quartier wichtige Integrationsarbeit mit jungen Menschen und ihren „zwei Heimaten“ leisten, ein Stück Wertschätzung zuteil werden lässt.

Mit den jungen Reportern dokumentiere ich an den vier Projekttagen drei Workshops, die von Künstlern des Kultur Palast Hamburg geleitet werden. Das hier Erarbeitete wird Teil des Stadtmusicals Mitte August sein. In einem Tanzworkshop thematisiert die Choreografie mit eingewobenen Boxelementen, wie die Kinder hier in Hamburgs Osten um ihre Heimat kämpfen und sich selbstbewusst ihr neues Umfeld erobern. Tanz auch als Mittel, Gefühle zu verarbeiten und diese auszuagieren. Im Masken- und Kostüm-Workshop geht es zum einen darum, die Fantasie anzuregen, aber auch darum, musicalaffin auszudrücken, dass Menschen immer Masken tragen. Die Schüler des Ferienprogramms sind bewusst in die Rolle von Superhelden geschlüpft. Auf ihren Umhängen stehen Worte wie „Hulk“, „Stärke“, „Flugkraft“ oder „Cool“. Der Schüler Sham sagt mir: „Ich will mit der Maske meine Identität schützen.“ Whow! Und im Workshop Bühnenbild wird in einem multikulturellen Stadtteil eine Ausdrucksform gesucht, alte Möbel mit nachhaltigen Materialien aus Second-Hand- und Stoffläden sowie viel Klebstoff in kleine Monster zu verwandeln, die den Planeten Billstedt aufmischen sollen. Auf das Musical der vier Akteure Kultur Palast, Horner Freiheit, Schulkinderclub und Stadtteilschule Öjendorf darf man gespannt sein!

Neben bewegenden Begegnungen mit jungen Menschen und ihrer Geschichte bleibt mir ein Satz des dreizehnjährigen Daniel im Gedächtnis: „Heimat kann schön und auch grauenvoll sein.“ Und so wird sie immer bleiben, diese Wunde des nicht freiwillig verlassenen Geburtslandes, der Schmerz des ursprünglichen Heimatgefühls. Wie sagt doch Herbert Grönemeyer? „Weil quer übers Herz liegt die Erinnerung. Sie bleibt immer jung.“

Karten für das Stadtmusical PLANET BILLSTEDT am 14./15. August 2021 gibt es unter www.kulturpalast.live oder telefonisch unter 040-8224568-0.

 

Foto: Heinz-Gerhard Wilkens
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