Auch wenn in den Schulen, z.B. durch Schnelltests und eine veränderte Impfstrategie für Lehrer und das Personal, voraussichtlich schneller zu einer neuen Normalität übergegangen werden kann, darf nicht vergessen werden, was die erste Schulschließung im Frühjahr 2020 und vor allem die zweite noch andauernde Schließung im Winter für Folgen bei den Kindern angerichtet haben kann.
Tobias Lucht ist leitender Sozialpädagoge der Kinderstiftung die Arche in Hamburg, die Hilfsprojekte in Jenfeld, Harburg und Billstedt betreiben. Er arbeitet in diesen Brennpunkten und sieht tagtäglich, was wir durch die Berichterstattungen nur erahnen können. Die Arche wird in der Zeit des Homeschoolings von Kindern überrannt, die Zuhause keine technischen Möglichkeiten haben am Unterricht teilzunehmen, geschweige denn den erwarteten Schulstoff umzusetzen. Zum einen sind es die technischen, zum anderen die häuslichen Herausforderungen. Die aktuell betreuten 35 Familien der Arche leben mit acht oder neun Personen in drei Zimmern. Auch die initialisierte Notbetreuung der Schule erfüllt hier nicht ihren Zweck, da schwer belastete Eltern ihre Kinder, aus Angst vor einer Infektion und den Folgen für die Familie, nicht in die Schule schicken. Viele kennen zudem ihre Rechte auf die Notbetreuung gar nicht.
Dass durch diese Bedingungen die physische und mentale Gesundheit der Kinder leidet ist nicht überraschend. Viele Eltern haben aufgrund der Pandemie ihre Niedriglohnjobs verloren und so fällt den Familien auch finanziell ein großer Baustein weg, der sich auf der anderen Seite durch den Wegfall des täglichen Schulessens und die Kosten dafür, als zusätzliche Belastung auswirkt. Außerdem beobachtet Lucht ein deutlich verändertes Sozialverhalten: von völligem Rückzug bis hin zu einem höheren Aggressionspotential. „Zwei elfjährige Jungen haben mit Suizid gedroht, weil sie in der Schule nicht mitkamen.“, erklärt der Sozialpädagoge.
„Corona hat binnen kürzester Zeit offengelegt, dass Bildungsgrad und Einkommen einen direkten Einfluss darauf haben, ob die Pandemie für Kinder „Schule nur anders“ bedeutet oder eben das: eine Katastrophe.“ (Abendblatt 05.02.2021)
Die Situation, dass in Haushalten kein WLAN vorhanden ist, können sich Kinder aus Eppendorf nicht vorstellen. Aber genau das betrifft z.B. einen Großteil der Kinder der Grundschule am Schleemer Park in Billstedt, die in ihren Wohnunterkünften kein WLAN haben. Da nützt es leider auch nichts, wenn Hamburgs Schulsenator Ties Rabe von dem Erfolg berichtet, dass die Stadt bei der Beschaffung von Laptops und Tablets sowie der Installation und Nutzung von guten Lernprogrammen in den vergangenen neun Monaten die Zahlen mehr als verdreifacht hat. Auch die Aussage von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der die Jobcenter dazu angehalten hat, bei Kindern, deren Familien von Hartz IV leben und die Laptops oder Tablets für den Unterricht benötigen, die Kosten von bis zu 350 Euro zu übernehmen.
Es bleibt zu hoffen, dass das Licht am Ende des Tunnels weiter leuchtet und sich vor allem darum gekümmert wird, die verschiedenen Defizite eines Schuljahres Pandemie aufzufangen. Konkrete Pläne für diese Zeit, wenn die Schule wieder „normal“ weitergeht, fordert auch Tobias Lucht: „Was nicht funktionieren wird, ist, weiterzumachen, als hätte es die Pandemie nicht gegeben.“ Dabei müssten mehrere Maßnahmen ineinandergreifen. „Überall da, wo es Probleme gibt, müssen Eltern und Kindern konkrete Angebote gemacht werden, wie sie die Lücken wieder füllen können.“ Sein Vorschlag sind spezielle Nachhilfe-Angebote, kleiner Klassengrößen, um individuell auf die Defizite der Schüler eingehen zu können oder Lernferien. Für diese Maßnahmen bedarf es aber in erster Line konkrete Pläne der Schulbehörde und eine Aufstockung des Personals, denn alleine werden die Lehrer in Hamburg diese individuellen Rückstände der Kinder nicht auffangen können. Andernfalls wird es kein Einzelfall sein, wenn Schüler im nächsten Sommer auf die weiterführende Schule wechseln und noch nicht richtig lesen oder schreiben können – ganz abgesehen von den psychischen Auswirkungen, die so viele Kinder in diesem Jahr kompensieren müssen. Im besten Fall hatten sie Menschen wie Tobias Lucht und die Arche an ihrer Seite.